Welche Rolle Schulen beim Umgang mit den neuen Medien haben
Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat den Begriff des digitalen Schmetterlingseffektes geprägt. Gemeint ist, dass in Internetzeiten eine minimale Bewegung im Internet einen globalen Tornado-Effekt bewirken kann. Nehmen wir das Beispiel von Terry Jones. Er war bis 2015 Pastor einer Mini-Gemeinde mit ein paar Dutzend Mitgliedern in Florida. 2010 kündete er zum Jahrestag der Anschläge auf die New Yorker Twin Towers eine Koran-Verbrennung an und löste damit eine „beispiellose Konfliktkaskade“ (Pörksen) aus. Sie hielt die Welt wochenlang in Atem. Pörksen zeichnet der Verlauf der Erregungsspirale nach. Sie beginnt in kleinen Verteilern und Websites, bis eines Tages CNN einsteigt und den Pastor vor einem Weltpublikum interviewt. Danach gibt es kein Halten mehr.
Jeder bestimmt das Klima der Öffentlichkeit mit
Das Beispiel zeigt: Das Problem ist nicht nur ein Scharfmacher und Zündler wie Terry Jones. Vielmehr kann er nur diese Wirkung entfalten, weil viele andere Weiterleiter, Kommentatoren und Journalisten seine Aktion mit dem Sauerstoff der Publizität versorgen. Daraus folgt für Pörksen: „Heute ist jeder, der einen Netzzugang besitzt, ein Gatekeeper eigenen Rechts, der das Klima der Öffentlichkeit mitbestimmt … Die klassischen Fragen nach der Relevanz, der Glaubwürdigkeit und der Überprüfung von Informationen gehen heute jeden an, der im Netz unterwegs ist.“
Man könnte auch vereinfacht sagen: Heute ist jeder und jede – vom Anspruch her – Journalist. Das alte Grundvertrauen gegenüber den klassischen Gatekeepern ist gestört, nicht nur wegen individuellen Versagens einzelner Gatekeeper, sondern grundsätzlich, systemisch. Da helfen keine Gut-Böse-Dichotomien, und auch keine rückwärtsgewandten Sehnsüchte.
Die alte Welt wird es nicht mehr geben, in der eine Berufsgruppe namens „Journalisten“ die Gatekeeper-Funktion für die Mehrheit übernimmt.
Im Internetzeitalter sei die Gesellschaft eine „redaktionelle Gesellschaft“ geworden, meint Pörksen. Daraus ergebe sich ein „in seiner Dimension kaum wirklich entzifferter Bildungsauftrag“, beginnend bei den Schulen. Recht hat er. Der Schlüssel liegt in der Bildung. Es geht gerade beim Umgang mit den neuen Medien um mehr als um „Kompetenz“-Erwerb, um mehr als um die Vermittlung von „Können“.
Es geht um die Selbstbestimmung des Menschen vor dem Anspruch der großen Fragen der Philosophie, wie Kant sie formulierte: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was ist der Mensch? Was kann ich hoffen? Diese Fragen gehören in die Schule hinein. Nur in der Auseinandersetzung mit ihnen werden Haltungen erworben, durch die eine Gesellschaft als Ganze dahin reifen kann, die Gatekeeper-Verantwortung nicht bloß an „Profis“ zu delegieren, sondern sich ihr selbst zu stellen.