Klaus Mertes SJ Kolumne

MERTES’ MEINUNG

Das Wahlalter herabsetzen?

Warum wir über das Wahlverhalten der Jüngeren nachdenken sollten

Vielleicht ist dies das interessanteste Ergebnis der letzten Bundestagswahl: Jungwähler wählen eher entweder GRÜNE oder FDP. Ich deute das als Zeichen einer Politisierung und Polarisierung der jungen Generation. Vor dem Hintergrund meiner Einblicke in Schule in Zeiten von Friday-for-Future und der Pandemie-Bekämpfung fallen mir dazu folgende Dinge auf.

Politisierung bedeutet: Kontroverse, und auch: Emotionalisierung. Die einen gehen auf Friday-for-Future-Demos, die anderen unterstellen, dass sie nur Schule schwänzen wollen. Das mag in Einzelfällen so sein, aber für das Gros und vor allem für die jugendlichen Aktivisten stimmt es nicht.

Die einen beantragen, dass auf Kursfahrten keine Ziele mehr angesteuert werden, die angeflogen werden müssen, die anderen stellen bei der Gelegenheit erstaunt fest, dass ein Flug nach Istanbul billiger ist als ein Zugticket, sagen wir: von Freiburg nach Strasbourg.

Die einen wollen an einem Tag Fleischverzicht in der Kantine durchsetzen, die anderen fliehen zum Döner vor dem Schuleingang.

Bitte keine Etiketten

Solche Kontroversen politisieren und polarisieren, und das war in den letzten Jahren ein Gewinn für die Schulen. Ich hielt es noch nie für gerecht, ganze Generationen von Jugendlichen mit Etiketten wie „null bock“ oder „party“ abzustempeln. Es trifft auch für die jetzige Generation überhaupt nicht zu. Im Übrigen muss es möglich sein, gut zu feiern und trotzdem ein politisch engagiert zu sein. Die anregendsten politischen Debatten finden manchmal auf einer Party statt.

Auch die Pandemiebekämpfung politisiert und polarisiert die Jugendlichen. Meine Prognose: Das Ausmaß wird sich langfristig noch deutlicher zeigen. Maske, testen, impfen, 2G, Lockdown, Grundrechte, Fernunterricht, Familie und Schule, Umgang mit Regeln, richtige und falsche Zahlen, zerstrittene Elternschaften und Kollegien machen etwas mit den Jugendlichen.

Die Themen spiegeln sich in den Medien wieder, mit den dazugehörigen Rückkoppelungseffekten in die Schulen hinein: Jugendliche werden in der Pandemie vereinnahmt, entweder lobend, wie solidarisch sie auf alles Mögliche verzichtet haben, oder kritisch, weil zu viele von ihnen das Feiern und Bolzen nicht lassen können. Es geht um das jeweils eigene „moralische“ Image. Das lässt keinen Jugendlichen, der sich gerade auf der Suche nach seiner Identität befindet, kalt.

Wieviel Gewicht geben wir der Stimme der Jugendlichen in einer alternden Gesellschaft?

Die Politisierung der Jugend ist eine Chance. Zunächst einmal in den Schulen und Bildungsinstitutionen selbst: Die Kontroversen so zulassen, dass weder moralisierender Harmoniedruck noch Spaltungen entstehen. Das stellt hohe Anforderung an die Pädagogik. Zum anderen in der Gesellschaft:

Wieviel Gewicht geben wir der Stimme der Jugendlichen in einer alternden Gesellschaft?

Da gewinnt die Diskussion um Herabsetzung des Wahlalters oder gar um ein stellvertretendes Wahlrecht von Eltern für ihre Kinder an Fahrt. Vielleicht sollte man doch mal neu auch an diese Themen herangehen.

Das Wahlverhalten der jüngeren Generation zeigt jedenfalls, dass es eine nachvollziehbare größere politische Ungeduld und Unruhe gibt. Sie wird auch nach der Vereinbarung einer neuen Koalition mit GRÜNEN und FDP als den beiden Kanzlermachern nicht zur Ruhe kommen. Ein Drängen wird fühlbar, stärker gehört zu werden und politisches Gewicht zu erlangen. Das ist erfreulich.


Klaus Mertes

Als Klaus Mertes, geb. 1954, noch nicht wusste, dass er eines Tages Jesuit, Lehrer und Kollegsdirektor werden sollte, hatte er eigentlich zwei Berufswünsche: Entweder in die Politik gehen und Reden halten, oder an die Oper gehen und als Tristan in Isoldes Armen sterben. Rückblickend lässt sich sagen: Als katholischer Priester kann man beides gut kombinieren: Öffentlich reden und öffentlich singen. Die Jugendlichen, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen und alles, was so im Lebensraum Schule und Internat anfallen kann, halfen ihm, vor den großen Fragen nicht zurückzuschrecken und zugleich bei den Antworten nach Möglichkeit nicht abzuheben. Seit Sommer 2020 hat er den Schuldienst nun verlassen und ist seitdem vor allem publizistisch und seelsorglich in Berlin tätig.

Foto: Wolfgang Stahl

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