Versöhnung  

Bleiben, wenn’s am schlimmsten ist?

Prinzipien für eine aussichtslose Situation in der Kirche

Man soll gehen, wenn’s am schönsten ist, sagt das Sprichwort. Und alle wissen, das fühlt sich falsch, fast paradox, an: Von einer Party wegzugehen, wenn die Stimmung auf dem Höhepunkt ist; eine Beziehung zu beenden, in der man sich wohlfühlt; aus dem Urlaub aufbrechen, wenn die Erholung endlich eingesetzt hat. Viel häufiger geht man doch, wenn’s nicht mehr anders geht – also wenn es am schlimmsten ist. Genauso tun es gerade deutschlandweit Hunderttausende, sie treten aus der Kirche aus, weil es scheinbar nicht mehr schlimmer werden kann.

Noch paradoxer als das „Gehen, wenn’s am schönsten ist“ erscheint mir mein „Bleiben, wenn’s am schlimmsten ist“. Bist du eigentlich noch bei Verstand, frage ich mich manchmal, oder: Schämst du dich nicht, zu bleiben?

Ehrlich gesagt: Ja, ich schäme mich für die Verantwortungslosigkeit in meiner Kirche. Und deswegen übernehme ich Verantwortung. Für mein Bleiben. Ich halte mich – mal reflektierter, mal intuitiver – an sieben Prinzipien und ein Versprechen, um katholisch bleiben zu können.

Tätig bleiben

An allen Stellen, wo ich bisher die Möglichkeit wahrnehmen konnte, habe ich zu Veränderungen beigetragen. Mir ist bewusst, dass ich noch mehr hätte tun können, noch mehr Ehrenamt, noch mehr berufliches Engagement für die großen Problemthemen, noch mehr politisches Handeln… Mir ist dabei bewusst, dass ich schon zu der Gruppe von Menschen gehöre, die verhältnismäßig viel für Veränderungen in der Kirche tun können. Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch in der katholischen Kirche einen Korridor hat, um zu Veränderungen beizutragen. Je größer dieser ist, desto mehr erwarte ich von mir selbst.

Gesund bleiben

Tätig bleiben, das hängt mit Gesund bleiben zusammen: Ich kann nicht alle Paradoxien ausbalancieren, die es zwischen froher Botschaft, gelungenem pastoralen und caritativen Handeln auf der einen Seite und hierarchischer Ungerechtigkeit sowie ausbleibender Verantwortung auf der anderen Seite gibt. An diesen Widersprüchlichkeiten könnte ich zerbrechen.

Mein Glück ist, dass ich mich von den Ungerechtigkeiten innerlich distanzieren kann, um Kraft zu schöpfen. Dieses Glück haben viele seelisch verwundete Menschen nicht, die erfahrene Ungerechtigkeit und Gewalt überfallen sie immer wieder.

Kirchenaustritt

Ehrlich bleiben

Den Verwundeten bin ich als Katholikin schuldig, ehrlich zu sagen: In dieser Kirche läuft es nicht gut, die Botschaft von radikaler Liebe, vom Zusammenspiel von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, von Auferstehung wird an oberster Stelle nicht gelebt, wenn es um sexualisierte Gewalt, um Verantwortung und Glaubwürdigkeit geht. In der offiziellen Meinung der Kirche gibt es weder Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung für alle Geschlechter noch für queere Menschen.

Es gibt in der römischen Zentrale kein zeitgemäßes Verstehen der Welt, sondern ein verzerrtes. Es gibt eine absolutistische Monarchie und keine Demokratie. Und ich möchte mir und anderen nicht vormachen, dass sich die notwendigen bahnbrechenden Entwicklungen bald einstellen werden.

Gläubig bleiben

Wenn Ehrlichkeit das einzige Prinzip wäre, müsste ich gehen. Oft verdrängt die Ehrlichkeit auch meine Lust auf liturgische Feiern, denn in diesen erlebe ich zu wenig strukturelle Ehrlichkeit. Umso zentraler sind für mich die Nischen geworden: Die Hausgottesdienste mit den Nachbarn, das freie Gebet mit dem Sohn, die Exerzitien bei einem guten Begleiter, der religiöse Austausch mit anderen Gläubigen. Ohne meine tiefe Religiosität könnte ich kein Mitglied dieser Kirche bleiben.

Ungehorsam bleiben

Gott hat mich mit einem wachen Geist und einem frechen Gemüt ausgestattet. Zu diesen gehört eine Grundbereitschaft zum Ungehorsam. Gehorchen kann ich nur, wenn ich vertraue, vertrauen kann ich nur, wenn ich überzeugt bin. Und deshalb erscheint mir der am Gewissen reflektierte Ungehorsam eines der wichtigsten Prinzipien in der katholischen Kirche dieser Zeit.

Laut bleiben

Alles, was ich als Ungerechtigkeit erkenne, frage ich an. Alles, was mir unbarmherzig erscheint, versuche ich zu thematisieren. In der mir möglichen Form bleibe ich sprachfähig und erhebe meine Stimme – das ist sicherlich nicht für jeden Menschen gleichermaßen möglich, aber jeder Mensch kann auf die eigene Weise laut und deutlich sein.

Verbündet bleiben

Früher, als mir noch alles in Ordnung schien, in der katholischen Kirche, also als ich noch sehr individuell mit meinem Glauben in Gottesdiensten unterwegs war und keine Einbindung in das System hatte, da war mir die Gemeinschaft nahezu gleichgültig. Heute dagegen bin ich in Bezug auf Gemeinschaft bedürftig geworden: nicht pauschal, sondern differenziert. Ohne meine Verbündeten, ob das nun Kolleg:innen, digitale Bekannte, Schwestern im Geiste oder Diskurspartner:innen sind, könnte ich es oft in der Kirche nicht aushalten. Und ich glaube, dass dieses Verbündet Sein, diese Komplizenschaft einen Stück des schweren Weges tragen können.

katholische Kirche

Versprechen halten

Ich habe mir selbst versprochen: Ich bewahre mir immer die Freiheit, auszutreten. Wenn es nicht mehr geht, werde ich gehen. So wie es viele vor mir getan haben und immer noch tun. Ich werde dann einen Weg finden, meinen Glauben weiterzuleben, ohne der Institution anzugehören. Ich werde mir einen anderen Job, andere Engagements suchen. Diese Perspektive stimmt mich traurig, das wäre ein riesiger biografischer Bruch.

Selbstverpflichtung

Die Prinzipien und das Versprechen brauche ich, um aufrichtig katholisch zu bleiben, wenn’s am schlimmsten ist. Ich brauche sie, um in den Spiegel zu gucken, um nicht zynisch zu werden. Ich brauche sie auch, um motiviert meinen Dienst in der Kirche zu tun, um anderen vom Glauben zu erzählen. Sie sind eine Selbstverpflichtung.

Fotos: © knallgruen/photocase.com


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